Digitale Begleitung statt digitaler Überforderung


Warum Kinder bei der Smartphone-Nutzung Erwachsene brauchen – und wie Schulen und Familien gemeinsam handeln können

(Dieser Beitrag erschien 2025 in der Begleit-Publikation zur ORF Dok1 „Drei Wochen Handy-Entzug – Das Experiment“)

„So kann es nicht weitergehen.“

Der Direktor einer höherbildenden Schule im Bezirk Tulln hat eine Arbeitsgruppe zur Handynutzung an seiner Schule einberufen.

„Es ist außer Kontrolle. Wir haben die Schüler:innen anonym befragt. Über 30% geben an, dass sie sich handysüchtig fühlen und Hilfe brauchen.“

„Die größte Herausforderung in meinem Leben ist meine Internetsucht.“

Das sagen über 30% der Burschen und 40% der Mädchen bei einer Befragung von 1.500 Jugendlichen zwischen 12 und 24 Jahren in 13 Gemeinden im Wienerwald.*

„Ich bin pro Woche zwischen 60 und 80 Stunden auf TikTok. Ist das zu viel?“

fragt mich ein Bub nach meinem Workshop in einer Mittelschule im Waldviertel. 

In den vergangenen 2 Jahren habe ich in über 60 Schulen in Wien, Niederösterreich und im Burgenland mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. In Volkschulen, Mittelschulen, Gymnasien, BORGs, Polys und allgemeine Sonderschulen. 

Das Bild ist in jede:r Klasse das gleiche: die meisten Kinder haben Bildschirmzeiten von 5 bis 9 Stunden täglich. Manche noch mehr. Und in jeder Klasse sitzen junge Menschen, die über sich selbst sagen: „Ich bin süchtig. Ich brauche Hilfe.“

Worüber reden wir eigentlich?

In der öffentlichen Diskussion hat die Digitalisierung aktuell noch einen höheren Stellenwert als der Jugendschutz. Während die einen laut „Handyverbot!“ schreien, predigen die anderen: „Das Digitale! Das ist doch die Zukunft!“ und fordern möglichst früh und umfangreich Zugang zu smarten Geräten. Das wäre die einzige Möglichkeit, alle Chancen für die berufliche Zukunft zu wahren.
Hier werden mehrere Themen vermischt:
Medienkompetenz – sich sicher in digitalen Medien bewegen, eine verantwortungsbewusste und kritische Nutzung lernen.
Gerätekompetenz – grundlegende technische Fähigkeiten im Umgang mit Geräten und Software entwickeln.
Digitale Didaktik – im Unterricht mit digitalen Hilfsmitteln und Multimedia-Inhalten lehren.
Und, häufig übersehen – einen bewussten und selbstbestimmten Umgang mit smarten Geräten im Alltag leben. 

All diese Bereiche können in der Schule und zuhause gezielt gefördert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kinder jederzeit an jedem Ort ein eigenes Gerät zur Verfügung haben.

Bewältigt werden soll das von Eltern und Lehrkräften, die selbst ohne smarte Geräte aufgewachsen sind. Und die zu wenig Ahnung haben, wie junge Menschen die Medien heute nutzen. 

Das unterschätzte Risiko in der Hosentasche

Eltern wissen noch zu wenig über Gefahren im Netz. Die Mediennutzung der Kinder reden sie mit den immergleichen Vorteilen schön: Das Kind lernt so gut Englisch beim Computerspielen! Es gibt so tolle Lernapps! Die Kinder machen kreative Videos mit dem Handy! 

Worüber wir nicht sprechen: Kein Kind nutzt ausschließlich Lern-Apps. 

Apps und Netzwerke, die Kinder und Jugendliche häufig nutzen, sind randvoll mit nicht-altersgemäßen Inhalten. Unregulierte Internetnutzung bedeutet freien Zugang zu pornografischen Inhalten und Gewaltvideos. In Onlinespielen treffen Minderjährige auf fremde Erwachsene. Live-Chats und Chat-Apps erleichtern die Kontaktaufnahme. Auf YouTube und in sozialen Netzwerken kommen die Jungen mit allen Themen der Welt in Kontakt. Das bedeutet viel Spaß und Unterhaltung, aber auch: Krieg, Gewalt, Hass, Mobbing, Fitness- und Körperkult, unrealistische Körperbilder und fragwürdige Schönheitsideale. Und dazwischen: politische Werbung und radikale religiöse Inhalte. 

Die Risiken von zu intensiver Internetnutzung werden mit jeder Studie deutlicher: u.a. verzögerter Spracherwerb, Bindungs-, Fütter- und Einschlafstörungen bei den Kleinsten. Häufigeres Auftreten von Kurzsichtigkeit und psychischen Erkrankungen (z. B. Essstörungen, Angststörungen, Depressionen) bei den Älteren. 

Das perfekte Design der Abhängigkeit

Die Technikbranche hat indes ein Problem geschaffen, das sie selbst nicht lösen will:


Das Produktdesign ist perfekt darauf ausgelegt, dass wir eine starke Bindung zu unseren Smartphones entwickeln. Apps und Netzwerke nutzen manipulative Mechanismen um die Nutzungszeit zu verlängern.

Die körperliche Nähe zu smarten Geräten prägt eine ganze Generation. Smartphones werden nicht nur genutzt, sondern am Körper getragen – eine fundamentale Veränderung im Verhältnis zur Technologie. Diese technische Prägung wird deutlich sichtbar, sobald sich die Spielregeln ändern: 

„Meine Schüler:innen haben sich nach dem Handyverbot den Taschenrechner in die hintere Hosentasche gesteckt“, erzählt eine Schulleiterin aus Niederösterreich. „Sie haben das Handy körperlich vermisst.“

In meinem Workshop in einem Gymnasium am Wiener Stadtrand beginnt ein 16-Jähriger zu zittern, als ihn die Lehrerin bittet, sein Handy für eine Stunde auf das Fensterbrett zu legen. Für den Rest der Stunde hat er einen Schlüsselbund in der Hand. Die leere Hand fühlt sich nicht gut an.

Diese Beobachtungen sind symptomatisch für ein größeres Problem: manche Kinder sind bereits so stark an die permanente Verfügbarkeit von Geräten gewöhnt, dass sie körperliche Ersatzhandlungen entwickeln, wenn das Smartphone fehlt.

Dass Kinder und Jugendliche unbeschränkt Zugang zu allen Diensten haben, ist Absicht. Es gibt keine funktionierende Alterskontrolle. Mit Casino-Mechanismen werden sie möglichst lange am Bildschirm gehalten. Dabei sammeln Apps systematisch Daten. Datenschutz?

Egal.

Wer lange Online ist, kann viel Werbung gezeigt bekommen und produziert viele Daten, die an Werbetreibende verkauft werden.

Soziale Netzwerke und Online-Spiele sind die Gelddruckmaschinen unserer Gegenwart. Die Aufmerksamkeit ist viel Geld wert. Die Anbieter werden junge Menschen nicht besser schützen. Darum müssen wir uns kümmern. 

Die blinden Flecken der Erwachsenen

Ich spreche jede Woche vor Eltern, die ihren Kindern unregulierte Smartphones in die Hand geben, und sich auf allerhand ungeprüfte Annahmen verlassen: 

„Mein Kind schaut sowas nicht!“ (Über Pornografie und Gewaltinhalte)

Oder: „Das ist nur eine Phase“ (Über Kinder mit extremen Bildschirmzeiten)

Doch die Realität sieht anders aus: Den ersten Kontakt mit Pornos haben Kinder heute zwischen 11 und 13 Jahren. Und sie tricksen ihre Eltern systematisch aus. Mit Zweit-Accounts, Zweit-Handys und dem geschickten Umgehen von Filtern und Bildschirmsperren.

„Meine Eltern sind froh, wenn ich in meinem Zimmer am Computer bin. Sie denken, da bin ich sicher und da kann ich nichts anstellen.“

Dieses Zitat eines 14-Jährigen bringt das Dilemma auf den Punkt. Während Eltern Sicherheit vermuten, navigieren ihre Kinder durch eine Welt, die ursprünglich für Erwachsene konzipiert wurde.

Das Märchen vom Autofahren

„Wir müssen sie auch mal machen lassen! So wie beim Autofahren. Wenn wir sie nie hinters Steuer lassen, lernen sie es doch nicht.“

Sagt eine Mutter beim Elternabend, ein paar andere Eltern nicken. 

Wenige Aktivitäten sind in unserem Land so stark reguliert, wie das Autofahren und Fahren lernen. Das Beispiel zeigt sehr gut, was wir beim Jugendschutz im Internet falsch und anderer Stelle richtig machen. 

Kleine Kinder bekommen Spielzeugautos. Damit fahren sie am Teppich im Kinderzimmer. Sie dürfen im Auto mitfahren, aber nur mit aufwendigem Schutz. Mit speziellen Sitzen und Gurtsystemen. Behördlich geprüft und gesetzlich vorgeschrieben.

Wir lassen kleine Kinder nicht allein auf die Straße. Einem 3- oder 4-Jährigen öffnen wir nicht einfach das Gartentor und sagen: „Schau dich mal da draußen um.“

Nein. Wir nehmen sie an der Hand. Gehen gemeinsam. Zeigen ihnen die Gefahren. Üben links und rechts schauen.

Im Kindergarten und in der Schule gibt es Verkehrserziehung. Zweierreihe. Stehenbleiben. Schauen. Beim Zebrastreifen warten.
Ab 12 dürfen sie vorne mitfahren. Mit Fünzehneinhalb lassen wir sie als Fahranfänger:innen mit L-Taferl hinters Steuer. Aber nur, wenn ein:e Erwachsene:r daneben sitzt und ansagt.

Fahrstunden, Fahrsicherheitstraining, Theorieprüfung und Führerschein – das alles muss positiv bestanden werden. Dann kriegt man den Schein. Mit Probezeit. 

Wer von uns nimmt sie an der Hand, wenn sie die ersten Schritte im Netz machen?

Verantwortung wahrnehmen

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, zu schauen, was er auf seinem Handy macht.“

Sagte die Mutter eines 8-Jährigen nach meinem Vortrag beim Rausgehen zu ihrer Begleitung.

Sie hat das ernst gemeint. Und es stimmt – Sie kennen die Gefahren nicht. Sie haben nie gelernt, damit umzugehen. Viele sehen keinen großen Handlungsbedarf und sehen es auch nicht als ihre Aufgabe an.

In meiner Arbeit in Schulen und mit Eltern erlebe ich häufig, dass sich Lehrkräfte und Eltern die Verantwortung hin- und herschieben. „Das müssen die Kinder zuhause lernen, das ist die Aufgabe der Eltern“, heißt es von Seiten der Schulen. Und: „Das müssen die Kinder in der Schule lernen.“ erklären mir die Eltern. „Darum müssen sich die anderen kümmern“, sagen alle. 

Da machen es sich beide Seiten zu einfach. Die unbequeme Wahrheit liegt in der Mitte:

Zuhause tragen die Eltern die Verantwortung, in der Schule die Lehrkräfte, in der Nachmittagsbetreuung die Freizeitpädagog:innen. Das regelt die Aufsichtspflicht.

Einladung zur Zusammenarbeit

Zu Beginn hilft es, die Verantwortlichkeiten einmal klar anzusprechen. Damit die Zusammenarbeit gelingen kann, müssen Lehrkräfte in der Lage sein, das Gespräch über Mediennutzung zu führen. Sie brauchen ein solides Basiswissen. Sie sollten die häufigsten Fragen der Eltern fachlich kompetent beantworten können. Und die Sorgen ansprechen, die sich die meisten Eltern machen. Sie mit Lösungsvorschlägen und Präventionsmaßnahmen beraten. 

Für eine wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe müssen beide Seiten die jeweils andere Position anerkennen und Verständnis für die jeweiligen Herausforderungen zeigen.  

Darin liegt ein riesiges Potenzial. Einige Schulen haben das bereits erkannt und setzen erfolgreich Maßnahmen um: 

  • Handyfreie Unterrichtszeiten mit klaren Regeln für alle Schüler:innen (inkl. Oberstufe) und Lehrkräfte
  • Regelmäßige Elternabende und aktive Kommunikation zur Abstimmung der Gerätenutzung in der Schule und zuhause
  • Medienkompetenz-Workshops für Schüler:innen und Weiterbildungsangebote für Pädagog:innen


Manche Eltern nutzen bereits Elternabende, um sich mit anderen abzustimmen. Aus der Not: „Alle Kinder haben schon ein Handy, mein Kind ist sonst ausgeschlossen“ wird eine gemeinsame Entscheidung: „Wir warten alle bis zur Unterstufe, bis wir unseren Kindern Smartphones kaufen.“ Gemeinsam wird es für alle leichter. 

Ein starkes “WOFÜR?“ finden

Machen wir uns nichts vor – Handys zu regulieren und Vereinbarungen konsequent durchzuhalten bedeutet eine Menge Arbeit.

Eltern werden zur „Handypolizei“, kappen abends die WLAN-Verbindung und kontrollieren Computer nach der Schlafenszeit. Pädagog:innen stehen jede Stunde vor Schüler:innen, die Grenzen austesten und mehr Freiheiten einfordern.
Das kostet Kraft und Nerven. 

Das Durchhalten und konsequent sein fällt uns schwer. Keiner will der Spielverderber oder die Spaßbremse sein. Ein wichtiger gedanklicher Schritt hilft uns allen beim Durchhalten: Die Gewissheit, eine gute Entscheidung zu treffen.

Mit jedem Mal wird es leichter, denn Sie haben ihr starkes „WOFÜR“ vor Augen: Sie schützen Ihr Kind. Sie achten auf einen gesunden Umgang und ausreichend Pausen für Erholung. Sie ermöglichen konzentriertes Lernen und ungestörten Schlaf. Sie leben ein aktives Zusammensein und ungestörte Kommunikation in der Familie. Das wird Sie durch schwierige Phasen tragen und Ihnen Kraft für unausweichliche Konflikte geben.

Lassen Sie sich nicht von schlechten Gefühlen abbringen. Sie entscheiden aus gutem Grund und handeln konsequent. Das fühlt sich leider nicht immer gut an. Aber durchhalten lohnt sich. Es ist das gute Ergebnis, das zählt. 

Die digitale Mündigkeit als gemeinsames Ziel

Das Ziel ist nicht die komplette Abstinenz von digitalen Geräten, sondern die Entwicklung digitaler Mündigkeit. Kinder sollen lernen, bewusste Entscheidungen über ihre Mediennutzung zu treffen. Dafür brauchen sie Erwachsene, die sie begleiten, unterstützen und ihnen Orientierung geben. Und die eingreifen und schützen, wenn Gefahr droht.

Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Eltern bietet enormes Potential. Wenn beide Seiten ihre Verantwortlichkeiten anerkennen und gemeinsam handeln, können sie Kindern und Jugendlichen den Weg zu einem gesunden Umgang mit der digitalen Welt ebnen.

Der Weg ist klar: Zuhause und in der Schule Bewusstsein schaffen und die Verantwortung annehmen. In der Zusammenarbeit Verständnis statt Verurteilung. Und vor allem: gemeinsames Handeln statt gegenseitiger Schuldzuweisungen.

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*JEP Jugendstudie der LEADER-Region Elsbeere Wienerwald, 2023 (https://www.elsbeere-wienerwald.at/Jugend_Elsbeere_Wienerwald_3

(Dieser Beitrag erschien 2025 in der Publikation zur ORF Public Value-Studie „21 Tage ohne Smartphone – das TV-Experiment)

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